Einen ganz speziellen Event durften wir am 10. und 11. April 2019 miterleben. Das älteste unrestaurierte und noch fahrtüchtige Fahrzeug Deutschlands, ein Benz Victoria mit der Chassis-Nummer 99, sollte 125 Jahre nach der Erstauslieferung wieder eine Strassenzulassung erhalten. Das Fahrzeug gehört zur Sammlung des PS.SPEICHER in Einbeck. Was macht den Benz Victoria so einmalig? Es gibt darüber ein Buch, das über den PS.SPEICHER bezogen werden kann.
Das Fahrzeug ist das neunundneunzigste von Benz gebaute Motorfahrzeug, das der Nähseidenfabrikant Alexander Gütermann im Sommer 1894 in Mannheim kaufte. 115 Jahre lang blieb diese Victoria in Familienbesitz. Für sein rasantes Fahren erhielt ihr Besitzer wahrscheinlich den ersten Strafzettel der Welt. Die Nr. 99 ist in vielerlei Hinsicht ein Phänomen: Bis hin zu den Sitzpolstern ist sie in unrestauriertem Originalzustand erhalten und fahrbereit. Auf ihrem langen Weg vom Topseller ihrer Zeit bis zur Grande Dame der Oldtimerszene hat dieses Fahrzeug einiges erlebt und gesehen. Technisch war die Victoria mit der von Benz patentierten neuen Achsschenkellenkung ein Meilenstein. Anlässlich der Rhein Bodensee Oldtimer Trophy im Jahr 2002 konnten wir dieses faszinierende Fahrzeug schon auf der Strasse bewundern.
Der eigens für die diese frische TüV Abnahme organisierte Event begann schon am Mittwoch, 10. April, mit Informationen, einer Führung durch das Bus + LkW-Depot und einem gemeinsamen Abendessen, an dem auch Karl-Heinz Rehkopf, Gründer des PS.SPEICHER, teilnahm. Herr Rehkopf, 1936 geboren, stand nach dem Essen bereit für Fragen und es war eine äusserst spannende Diskussion und manche Geschichte aus dem intensiven und erfüllten Leben von Herrn Rehkopf entlockte den Zuhörern ein Schmunzeln und Lachen.
Der nächste Tag stand dann ganz im Zeichen der eigentlichen Hauptdarstellerin, der 125 Jahre alten Benz Victoria. Eine Frage eines Journalisten am Vorabend war, ob es denn DER Benz Victoria oder DIE Benz Victoria heisst. Man kam zum Schluss, dass aufgrund des Namens Victoria DIE passender ist. Damit können auch wir gut leben. Also widmete man sich diesem Fahrzeug, um das es an diesem Event ging. Die Frage, ob es nun das älteste originale und unrestaurierte UND fahrfähige Fahrzeug der Welt oder Deutschlands ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Man kann aber davon ausgehen, dass alle anderen Fahrzeuge, wie der Peugeot Typ 3 (rechts im Bild), das erste in Italien zugelassene Fahrzeug, schon restauriert wurden oder nicht mehr offiziell zugelassen sind. Sicher aber ist, dass seit dem 11. April 2019 zumindest in Deutschland kein älteres Fahrzeug, welches im Originalzustand erhalten ist, eine aktuelle Strassenzulassung hat. Die Verantwortlichen des PS.SPEICHER haben natürlich schon vor einigen Tagen geklärt, ob überhaupt eine Zulassung möglich ist, was vom TüV bejaht wurde. Natürlich gab es eine ‘to do-Liste’ welche abgearbeitet werden musste, was auch gemacht wurde. Am 11. April war es dann soweit, die Benz Victoria wurde auf eigener Achse vom PS.SPEICHER zur TüV-Stelle gefahren. Aber nicht einfach so, nein, Herr Rehkopf persönlich fuhr den Wagen zusammen mit seiner Gattin Gabriele in historischer Kleidung durch die wunderschöne Altstadt von Einbeck.
Bevor aber die Fahrt zum TüV-Nord in Einbeck angetreten werden konnte, gab es einiges zu tun, denn die Benz Victoria stand in einer Vitrine ganz oben in der Ausstellung des PS.SPEICHER. Mitarbeiter öffneten die Glasfront und schoben das 125 Jahre alte Fahrzeug, das noch stark an eine Kutsche erinnert, durch die Ausstellung in den Fahrstuhl. Unten angekommen, brachte man den Wagen vor den Eingang ins Freie. Aber jetzt einfach losfahren wie mit einem modernen Fahrzeug geht nicht, da muss vorher noch kräftig gearbeitet werden und es braucht Fachwissen, denn die Technik von damals verstehen heute nur noch wenige Spezialisten. Es gibt keinen Anlasser, keine Elektrik, kein eigentliches Lenkrad und auch sonst erinnert wirklich viel an eine Kutsche. Der Startvorgang beginnt mit dem Befüllen des Vergasers, eines sogenannten Oberflächenvergasers. Man füllt den Bronzebehälter, der einige Liter Fassungsvermögen hat, zu etwa einem Viertel mit einem Spezialbenzin, das auch für Kolbenmotoren von Flugzeugen verwendet wird. Dieser Treibstoff verflüchtigt sich sehr schnell und ermöglicht so zusammen mit der Luft im Behälter ein zündfähiges Gemisch. Danach wird getankt, mit eben diesem Treibstoff und auch Wasser. Die Benz Victoria hat kein geschlossenes Kühlsystem, das Wasser verdampft und es muss von Zeit zu Zeit nachgefüllt werden, wie bei einer Dampflokomotive. Herr Rehkopf erklärte, dass er für die Fahrt von London nach Brighton neben 20 Litern Benzin auch 110 Liter Wasser verbraucht hat. Nach diesen Vorbereitungen wird der Motor einige Male durchgedreht, damit alle Lager geschmiert werden. Dann erst kann mit dem eigentlichen Anlassen begonnen werden. Die Zündung muss mit einem Hebel links unten vom Fahrersitz in die richtige Position gebracht werden, ebenso der Hebel für das Gas. Dann wird das grosse Schwungrad von Hand in die richtige Stellung gebracht und mit einem kräftigen Ruck gedreht, so dass im Idealfall der Motor anspringt. Den Idealfall hatte man in Einbeck nicht auf Anhieb, es war recht kalt und da braucht es für das Startprozedere mehr Zeit. Dank den kundigen Händen der Mitarbeiter des PS.SPEICHER’s vernahm man aber schon bald erste leichte ‘Lebenszeichen’ der alten Dame und nach ein paar weiteren Versuchen lief der Motor aus eigener Kraft. Jetzt galt es, die richtigen Einstellungen zu finden, denn der ganze Wagen schüttelte wie ein störrischer Esel. Nach einigen Minuten und zunehmender Wärme aber beruhigte sich die Laufkultur und die Fahrt zum TüV konnte beginnen.
Herr und Frau Rehkopf fuhren in historischer Kleidung mit dem Benz in die Altstadt von Einbeck, denn vor der Rats-Apotheke musste Benzin besorgt werden. Das war in der Anfangszeit der Motorisierung üblich, denn ein Tankstellennetz gab es noch nicht. Die vorausfahrenden Journalisten und Fotografen sowie Passanten erwarteten den Veteranen und beobachteten interessiert das Treiben vor der Apotheke. Nachdem die Benz Victoria wieder startklar war, ging die Fahrt weiter durch Einbeck zum TüV, wo die Endabnahme stattfand. Eine erste Prüfung wurde schon vor 3 Wochen gemacht und es wurden einige Mängel festgestellt, die behoben werden mussten. Beispielsweise war eines der Holzspeichenräder locker und musste mit Wasser wieder stabil gemacht werden. Da das Holz mit der Zeit austrocknet, braucht es eben Feuchtigkeit, welche das Holz zum Anschwellen bringt. Unterlässt man das Befeuchten, riskiert man einen Bruch des Rades. Ein konstruktiv bedingter Oelverlust bekam man mit einer Auffangwanne in den Griff. Sonst war die Mängelliste aber klein und Vorschriften gab es vor allem bezüglich der fehlenden Elektrik und Beleuchtung. Den fehlenden Blinker ersetzt man mit einer Kelle, die der Fahrer oder Beifahrer beim Abbiegen aus dem Fahrzeug hält. Die beiden seitlichen Laternen werden mit Kerzen betrieben, was natürlich für den heutigen Verkehr nicht gehen würde, so darf die Benz Victoria nur bei Tageslicht im öffentlichen Verkehr gefahren werden. Wer jetzt denkt, die Herren vom TüV hätten beide Augen zugedrückt und die Abnahme sei nur symbolisch erfolgt, irrt gewaltig. Die Bremsen des Fahrzeugs wurden sogar auf einem Prüfstand getestet und es wurden mehrere Probefahrten und Messungen gemacht. Die Nachkontrolle an diesem 11. April 2019 verlief also positiv und die 125 Jahre alte Benz Victoria bekam die Zulassung.
Mit den Papieren fuhren Herr und Frau Rehkopf anschliessend zur Zulassungsstelle, wo die Kennzeichen in Empfang genommen wurden, die von Herrn Rehkopf natürlich sofort montiert wurden. Den Stolz und die Freude sah man ihm an und es ist sicher ein schönes Gefühl, das älteste originale Auto Deutschlands, ev. sogar der Welt, in fahrbereitem Zustand, zugelassen, in seiner Sammlung zu haben. Auch alle Anwesenden freuten sich mit dem Team des PS.SPEICHERS. Ein wirklich toller Anlass ging nach einem gemeinsamen Mittagessen zu Ende und wir werden bereits Ende Juli wieder nach Einbeck reisen zu den Einbecker Oldtimertagen, wo man die Benz Victoria wieder auf der Strasse sehen wird. Vielen Dank an das Team des PS.SPEICHER für diese tollen und spannenden zwei Tage.
Hier ergänzend die Geschichte und Technischen Daten der Benz Victoria, von der Pressestelle des PS.SPEICHER zur Verfügung gestellt.
Einmalig alt und einmalig original: Benz Victoria, Fabriknummer 99.
Typengeschichte:
Carl Benz, Industrieller und begeisterter Fahrradfahrer, gibt mit seinem vom Fahrradbau inspirierten Patent-Motorwagen den entscheidenden Impuls zur Entstehung des Automobils. Doch die Pariser Weltausstellung von 1889 und der Erfolg des konkurrierenden Daimler Stahlradwagens mit vier – und nicht nur drei Rädern wie bei Benz – zeigt, dass Importeure und Kunden vier Räder erwarten. 1893 erscheint daher der vierrädrige, vom Kutschentyp gleichen Namens abgeleitete Benz „Victoria“. An der Vorderachse zeigt sich die von Benz (wieder)erfundene Achsschenkellenkung, die seither zu jedem Automobil gehört. Auch hat die Victoria bereits eine Lenkstange und nicht nur eine Lenkpinne. Das Triebwerk ist ein liegender Viertakter mit unterdruckgesteuertem Einlass- und mechanisch gesteuertem Auslassventil. Für die Gemischaufbereitung ist ab 1894 bereits ein Oberflächenvergaser zuständig. Die unterbrechergesteuerte Zündung wird von einer Gleichstrombatterie versorgt. Die Wasserkühlung arbeitet mit Verdampfung. Das erklärt den im Vergleich zum Kraftstoffverbrauch bis zu zehnmal höheren Wasserbrauch des Victoria-Motors. Die vordere Sitzbank kann der Victoria-Kunde bei Benz gegen Aufpreis ordern. Sie macht die Victoria zum familientauglichen „Vis-a-Vis“.
Die technische Qualität der Victoria stellt der böhmische Baron Theodor von Liebieg im Sommer 1894 mit einer aufsehenerregenden Fernfahrt von Reichenberg (heute Liberec/CS) bis nach Reims unter Beweis. Von Liebieg und sein Begleiter Stransky gelingen Tagesetappen bis zu 200 Kilometern. Der kommerzielle Erfolg bleibt nicht aus. Dank der Victoria steigt Benz bis zur Jahrhundertwende zum größten Automobilhersteller der Welt auf, um dann von De Dion Bouton abgelöst zu werden.
Objektgeschichte:
Der Industrielle Alexander Gütermann holt am 18. Juli 1894 im Mannheimer Werk des Carl Benz seine „Victoria Vis-A-Vis“, Nr. 99, ab. Gütermann fährt selbst, lässt sich aber auch vom Kutscher der Familie, Gottlieb Hepp, fahren. 11 Jahre dient der Motorwagen für Privat- und Geschäftsfahrten, bevor er durch einen weiteren Benz abgelöst wird. Als stationärer Antrieb überlebt das Fahrzeug in der Fabrik der Gütermanns, bis in den 1930er Jahren sein historischer Wert erkannt wird. Technisch überholt nimmt die Victoria 1933 an einer Ehrungsfahrt für Carl Benz teil.
Das Fahrzeug bleibt bei den Gütermanns, bis 2009 der Einbecker Kaufmann und Sammler Karl-Heinz Rehkopf das nach wie vor originale Automobil aus erster Hand erwirbt. Allerdings war die Kurbelwelle gebrochen und der Zylinder gerissen. Rehkopf lässt den Motor aufwändig instandsetzen und nimmt mit dem Wagen 2010 und 2012 jeweils erfolgreich am London-Brighton-Run (GB) teil. Auch in Pebble Beach (USA) gelingt ein Klassensieg. Seither steht die Nr. 99 im PS.SPEICHER, um nun mit 125 Jahren wieder das älteste, zugelassene Kraftfahrzeug Deutschlands zu werden.
Technische Daten:
Benz Victoria FIN „Nr. 99“
Heckmotor, 1 Zylinder Viertakt, liegend
Hubraum: 2.915 cm³, 6 PS bei 700/min, Verdampfungskühlung,
Höchstgeschwindigkeit max. 29 km/h,
2-Gang Riemen-Wechselgetriebe,
Kraftübertragung auf die Hinterräder mittels Rollenketten,
Leergewicht ca. 880 Kilogramm,
Kraftstoffverbrauch 15 bis 20 Liter/Ligroin (Leichtbenzin) auf 100 km
Bauzeit 1893 bis 1900 Erstzulassung: 07.1894
Verwarnung mit untenstehendem Wortlaut
Waldkirch, den 5. November 1895
Gesuch der Firma Gütermann und Cie in Gutach um Erlaubnis zum Befahren öffentlicher Straßen mit einem Motorwagen betr.
No. 14558
An die Firma Gütermann und Cie in Gutach
Es wird uns mitgeteilt, dass Sie bei dem Betrieb Ihres Motorwagens die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht einhalten, sondern namentlich durch die Dörfer und Städte viel zu rasch fahren. Wir machen Sie deshalb wiederholt mit Ziffer 3 der Normativ-Bestimmungen Gr. Ministerium des Innern vom 30. November 1893 aufmerksam, wonach die Fahrgeschwindigkeit innerhalb der Orte 6 klm pro Zeitstunde nicht übersteigen darf.
Bei ferneren Zuwiderhandlungen gegen diese Bestimmung wären wir genötigt, strafend gegen Sie einzuschreiten.
Bei diesem Anlass bringen wir Ihnen in Erinnerung, dass nach der erwähnten Bestimmung Gr. Ministerium des Inneren die Erlaubnis zur Benutzung des Motorwagen zu Ende geht, sofern die Konzession nicht auf Ansuchen der Firma Benz und Cie in Mannheim rechtzeitig verlängert wird.
Galerie vom 1. Tag, Besichtigung PS.SPEICHER und Abendessen
Galerie vom 2. Tag, Zulassung der Benz Victoria 1894